Per Anhalter durch Island

Es werden Wetten geschlossen, wer den gemeinsamen Ausgangspunkt auf dem Hringvegur schneller wieder erreicht – er rechts oder sie links herum. Jede Sekunde zählt. Ausschließliche Fortbewegungsoption: Trampen. Der Hringvegur ist die Ringstraße mit einer Gesamtlänge von 1339 km, an der fast alle wichtigen Städte und Orte Islands liegen. Nach etwa 26 Stunden mit einigen Strecken zu Fuß und zig Fahrerwechseln, gewinnt sie mit 15 Minuten Vorsprung. Oder Gosia. Die Polin nutzt jede Gelegenheit ihrer freien Zeit hier in Sólheimar, Island als Anhalterin kennen zu lernen. Allein natürlich. Denn allein ist es einfacher, mitgenommen zu werden.

Island ist ein El Dorado für Tramper. Wobei man Trampen wohl auch als Notwendigkeit bezeichnen könnte. No wonder, wenn ich einen rundum Blick von dem über dem Mikrokosmos  Sólheimar liegenden Hügel nehme. Am Horizont Hügel, Grasland, Seen, Einzelhöfe. Ausschließlich. Dazu verrät der Blick auf Google Maps: 10 km bis zur nächsten 77 Seelen Ortschaft Borg mit Tankstelle, Schwimmbad und schätzungsweise 20 m² großem Supermarkt sowie Anschluss zur Hauptstraße. Die Straße von Sólheimar nach Borg wird befahren. Im Durchschnitt von einem Auto jede halbe Stunde. Eine Busverbindung gibt es nicht. Wenn frau also nicht versauern, vereinsamen oder verblöden will, muss sie der Großmutter im Ohr Widerhall bieten. Der letzte Mord durch Trampen in Island soll genau 40 Jahre zurück liegen. Das beruhigt. Also angedacht und auf den Weg gemacht.

Seit dem ersten Tag hier habe ich vierzehn Tage durchgearbeitet, wobei sich Durcharbeiten auf einen geregelten 7-Stunden-Tag bezieht. Von Kollegen wird man für diesen Aufwand bereits bemitleidet. Abgesehen von der Aufstehzeit zwischen 7 und 8 Uhr morgens, die für Nachteulen wie mich angenehmer sein könnte, fühlt es sich relaxt an. Und dafür gibt es nun sogar noch fünf Tage frei am Stück. Was für ein Luxus! Genug Zeit also, um die ca. 85 km entfernte Hauptstadt Reykjavik in zwei Stunden oder zur Not in zwei Tagen zu erreichen. Irgendwann gibt es immer das erste Mal. So auch beim Trampen. Juche, ich bin neugierig und mache mich auf den Weg. Zum Trotz dem nach 16 Stunden Dauerregen immer noch Wolken verhangenem Himmel. Ich vertraue der stündlichen Wettervorhersage für diesen Tag. Der nächste Regen wird in zwei Stunden erwartet. Bis dahin sollte ich die 10 km bis Borg zu Fuß erreicht haben, um dort per Anhalter weiter zu kommen.

Um die 26° sind für manche die aushaltbare Obergrenze…

Es ist Sommer. Auch in Island. Die Temperaturen liegen diese Tage im Durchschnitt um die 14°. Geht es mal in Richtung 20°, können Isländer schon ins Schwitzen kommen. Um die 26° sind für manche die aushaltbare Obergrenze, wie ich erfahre. Like it! Bei diesen Bedingungen lohnen sich wenigstens die Ausgaben für die Funktionskleidung, deren Marktanteil hier zu einem großen Teil an 66°NORTH geht. Über das Tragen von 66°NORTH-Kleidung bin ich in Berlin in der U-Bahn bereits mit einer Isländerin ins Gespräch gekommen. Das verbindet. Irgendwie. Und unabhängig davon, dass 66°NORTH, dessen Name sich auf den Polarkreis in 66,56° nördlicher Breite bezieht, in der Vermarktung mit den klimatischen Bedingungen Islands spielt, ist das Unternehmen isländisch typisch stark in der Werbung und deren Bildern.*

* Weder für das Schreiben dieser Zeilen noch für das Einbetten dieses Videos bin ich angeheuert. Wie schade eigentlich, bin ich doch eine von der Qualität überzeugte und vom Marketing inspirierte Kundin. 66°NORTH, ich bin also ansprechbar für Schandtaten! 

Ausgerüstet mit passender Sommerkleidung, sprich Regenjacke und Regenhose, bin ich kaum 20 Minuten mit dem Ziel  Reykjavik unterwegs, wird die Ruhe der Landschaft frühzeitig durch das Geräusch eines näher kommenden Fahrzeuges durchbrochen. Eine Isländerin mit spärlichem Englisch hält an und nimmt mich mit. Sie ist von ihrem Sommerhaus auf dem Weg zum Schwimmbad in Borg. Auf halber Strecke treffen wir ihren Mann. Er trainiert für den Reykjavik Marathon im August. Am Berliner Marathon hat er auch schon teilgenommen. Die Fahrt ist kurz. Leider.

Aus dem Auto ausgestiegen, verlässt mich die Wettervorhersage. Es regnet. Schon nach fünf vorbei fahrenden Autos bin ich etwas frustriert. Der Weg zur nächsten Straßengabelung in Richtung Reykjavik misst 20 km. Doch was die Kollegen schaffen, schaffe ich schon längst! In diesem Moment hält auf der gegenüber liegenden Straßenseite Anna, eine junge Isländerin, die mich einlädt, mitzufahren. Wie sich später heraus stellt, hat sie extra umgedreht, um mich mitzunehmen. Sie macht das öfter.

Anna und ich kommen schnell ins Gespräch. Über die polnischen Mitarbeiter in den 50 ha fassenden Gewächshäusern ihres Vaters, die Sommer in Island, ihre Urlaubswünsche. Neben Anna, direkt vor mir und von den Kopfstützen verdeckt, sitzt eine Frau. Zumindest spricht Anna immer von einer „she“. Diese Frau hat graue lange Haare, eine ungewöhnlich tiefe Stimme und Frauen untypische Hände. Okay, verstehe. Diese Frau war mal ein Mann. Relativ schnell ist auch klar, dass beide ein Paar sind. Ich finde das interessant und bin gespannt, was ich mit den beiden noch erleben oder von ihnen erfahren werde.

Die Isländer sind traditionell sehr familienverbunden. Da kann „Andersartigkeit“ fortwährend konfrontierendes Thema sein und Weltbilder zerstören.

Bequem im trockenen Auto sitzend und wissend, dass ich im Verlauf des Vormittags nach Reykjavik gefahren werde, begebe ich mich auf die Tour der Tageserledigungen von Anna und ihrer Freundin mit Halt in Selfoss beim Physiotherapeuten, dann Reifenwechsel in der Werkstatt, dann nachgeholtes Frühstück. Anna und ich haben einige Minuten unter vier Augen. Da verblüfft sie mich mit ihrer Offenheit: Weißt du, sie ist ein Transvestit? Woraufhin wiederum ich sie verblüffe. Für Berliner ÖPNV-Nutzer ist das schließlich nichts Besonderes. Und im Nebensatz fügt sie an: Ich weiß nicht, ob ich dich jetzt schocke, aber wir sind auch zusammen und haben einen Altersunterschied von 35 Jahren. So what? Erleichtert über mein Verständnis, erfahre ich von den Schwierigkeiten und Tabus, mit denen sie seit 3 Jahren in ihrem Umfeld leben. Die Isländer sind traditionell sehr familienverbunden. Da kann „Andersartigkeit“ fortwährend konfrontierendes Thema sein und Weltbilder zerstören. Zum Teil haben sie das erfahren und erfahren es noch. Doch beide hinterlassen bei mir einen sehr harmonischen und glücklichen Eindruck. Und das ist es, was zählt – lebe das Glück.

In Reykjavik angekommen, verfalle ich ein klein wenig in Supermarkt-Shopping-Fieber. Wow, nach zwei Wochen mal wieder auswählen können – nach Farbe, Laune, Lust auf etwas Neues und Appetit. Bónus, du bist ein Paradies! Zumindest so lange, bis du einen nach Kreditkarteneinschub an der Kasse vorbei lässt. Aber was soll`s. Welcome to Iceland!

…besuche ich in ihrer muckeligen kleinen noch Hauptstadtwohnung.

Daniela, eine seit mehr als zwei Jahren mit ihrem Mann in Island lebende Deutsche, die aufgrund eines facebook-Postings am Vortag der eigentliche Grund meines ersten hitch-hiking-Versuches ist, besuche ich in ihrer muckeligen kleinen noch Hauptstadtwohnung. Nur wenige Schritte vom Laugavegur entfernt, ist die Lage der Wohnung vergleichbar mit Wohnen am Kurfürstendamm. Mit Kind werden die zwei Zimmer mit Küche auf gefühlten 35 m² für 850 Euro kalt nun jedoch etwas eng. Nachmieter haben sich zur Besichtigung bereits angekündigt. Wir nutzen die Gelegenheit, über Arbeiten, Leben und Freunde in Island zu sprechen und freuen uns, weiterhin in Kontakt zu bleiben.

Und die 85 km zurück nach Sólheimar. Ein Glück. Anna und ihre Freundin bieten mir an, mich wieder zurück zu nehmen. Ich werde direkt vor meinem temporären zu Hause abgesetzt und resümiere, dass dies vielleicht ein guter Einstieg war, mit Trampen warm zu werden, aber etwas aufwendiger und weniger glatt sollte es schon auch noch einmal sein. Meine Neugierde ist also geweckt. Takk fyrir Lárus – you gave me the final kick to do it.

2 thoughts on “Per Anhalter durch Island

  1. Das liest sich nach menschlichen Begegnungen und anderen Abenteuer, besonders die mit Anna und ihrer „she“. Toll! Und darf es am Anfang nicht auch ruhig etwas glatter sein?!
    Hmm und die Miethöhe erinnert mich gerade an Berlin, irgendwie dachte ich, Island sei da etwas ‚moderater‘.
    Denn isländischen Sommer muss man wirklich mögen, mit oder ohne 66°NORTH. Genieße noch deinen freien Tage und danke für’s teilhaben lassen, schön so ein Einblick in Alltäglichkeiten anderer ;-). Lieben Gruß, Sandra.

    1. Sandra, danke für deine Motivation! Der nächste Beitrag ist bereits in der Pipeline. Immer auch mit besonderen Gedanken an dich, bist du doch nicht unerheblich „Schuld“, dass ich über Leben und Lieben (nun ja, zweiteres kommt vielleicht noch) berichte. Liebe Grüße in die Hauptstadt!

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