Ihre Körpersprache lässt eine gewisse Zwiespältigkeit vermuten, als ich ihr das erste Mal begegne. Dass sich dieser flüchtige und rein intuitionsbasierte Eindruck noch in einer emotional einschneidenden persönlichen Geschichte wiederspiegeln wird, ahne ich in diesem Moment noch nicht, als Alba mir zur Begrüßung die Hand reicht.
Plätze wie Sólheimar sind zunächst einmal eher ein El Dorado für Small Talk Liebhaber. Persönliche Geschichten und Lebenserfahrungen kommen oft erst nach gemeisterter Herausforderung, einen Weg gefunden zu haben, die Namen der aus mehreren Nationen zusammen lebenden Menschen nicht nur aussprechen, sondern sie in der Kür bei nächster Begegnung richtig zugeordnet auch replizieren zu können. Allem voran einige isländische Namen, für die teilweise eine 5-fache Wiederholung nicht ausreicht. Zum Trotz der eigenen Peinlichkeit.
Als ausgepusteter Lemming fühlend sitze und genieße ich also kurz nach fünf die ersten Minuten nach getanem Tageswerk im Wintergarten für mich allein. Den Rechner auf dem Schoß, mit besten Ambitionen zum Schreiben oder auch einfach nur isländisch lernen. Wenn da nicht der meditativ wirkende Blick auf den Horizont mit den sich laufend wechselnden Wolkenformationen wäre. Jede Ambition zu Ziel und Leistung schwindet in Sekunden. Wozu jeder einzeln spürbare Muskel sein Übriges tut, mich nur noch ins Bett tragen lassend von hier weg zu bewegen. Wie gerufen kommt Alba. Okay, ich kann sie für meinen Wunsch nicht begeistern, dafür kommen wir sehr schnell ins Gespräch und zu Details in ihrem Leben. Vor 15 Jahren hat sie hier in Sólheimar für einige Monate gelebt und gearbeitet. Jetzt ist sie das erste Mal zurückgekommen. Ihr ist anzusehen, dass dies etwas mit ihr macht. „I have such good memories on that time.“ Sie wiederholt es immer wieder. Ihre Augen glänzen dabei. Jedes Mal etwas mehr. Die Freundschaften von damals sind ihr geblieben und leben teilweise immer noch in Island. Von der Hochzeit einer ihrer italienischen Landsfrauen in Reykjavik zeigt sie mir stolz Fotos. Kaum erkennbar auf ihrem Telefon, das auch aus damaliger Zeit stammen könnte. Sie wirkt glücklich.
Sólheimar feiert dieses Wochenende 85-jähriges Bestehen. Geprägt von der Anthroposophie Rudolf Steiners sind es die Ideale der Gründerin und Powerfrau → Sesselja Sigmundsdóttir, die spürbar sind, wenn man den Bewohnern der Community näher kommt. Damals als erstes isländisches Heim für das Zusammenleben behinderter und nicht behinderter Kinder gegründet, leben heute auf einer Fläche von ca. 40 Hektar 43 geistig behinderte Erwachsene (die hier anstatt „disabled people“ liebevoll „home people“ genannt werden) zusammen mit etwa 60 nicht behinderten Menschen. Letztere sorgen sieben Tage die Woche dafür, dass die home people arbeiten können und sozial integriert sind. Halt ein ganz normales Leben führen können.
… auch hier fallen Geld und Liebe nicht vom Himmel …
So gut dieser Ansatz auch klingt und auf mich seit dem ersten Tag hier wirklich beeindruckend wirkt, ist aber natürlich nicht zu leugnen, dass die Community mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wie jede wirtschaftende Organisation. Denn auch hier fallen Geld und Liebe nicht vom Himmel und gelegentlicher Vulkanaschestaub taugt zum Nähren nicht. Deshalb schmunzle ich auch nur noch, wenn ich von für mich neuen Gesichtern immer wieder gefragt werde, weshalb ich noch keine Führung über das Gelände bekommen habe. Als Geografin mit recht gutem Orientierungssinn und gleichzeitig der Fähigkeit, mit selbst zurecht finden zu können, für mich jedoch kein Thema. Und gleichzeitig kommt man in Island nicht umhin, sich täglich eine Portion → „Þetta reddast“ aufzuerlegen (sinngemäß: Mach dir keine Sorgen, es wird schon alles werden.). Nichtsdestotrotz ist es ein Geschenk, dass Alba mich etwas herum führen will. Denn wie sich heraus stellen wird, bringt sie mich in das anliegende kleine Waldstück, das ab sofort der Start für meine Anti-Speck-Läufe werden wird. Juche, ich kann also etwas tun gegen die Kalorien, von deren unnütz größerer Menge als zu Hause hier jede Freiwillige berichtet. Mit entsprechend frustrierenden Auswirkungen. Wobei man es auch positiv sehen kann, nämlich: Sólheimar lässt es einen gut gehen.
Auf dem Weg durch die Lupinen, die in Island zur Verdichtung des Bodens eingeführt wurden und zu Beginn des Sommers das Land in einen wunderschönen violetten Ton legen, erzählt mir Alba, dass sie faktisch 15 Jahre Krankheit hinter sich hat. Unschön, viele Freundschaften sind in die Brüche gegangen, die Ärzte konnten nur über trial and error ihren Zustand verbessern, drei Jahre hat es bis zur Diagnose gebraucht. Diese schwierige Zeit hinter sich lassend sucht sie nun für sich nach neuen Wegen. Wegen zurück ins Leben mit der typisch italienischen Lebensfreude. Das hat sie auch noch einmal nach Sólheimar geführt. Ich wünsche ihr sehr, dass sie dafür ab September zum Leben und Arbeiten hierher zurückkommen kann. Mit ihrer Abreise heute Morgen war das noch nicht klar. Doch wir bleiben in Kontakt. Nicht nur für die Übersendung der kleinen Fotoreihe, die ich von ihr gemacht habe.
… weder esoterisch noch spirituell …
Und das Ende der Geschichte? Keine Sorge liebe Freunde, dass ich „verquirlt“ in die Heimat zurückkommen werde. Der Ort hier ist weder esoterisch noch spirituell verpflichtend. Er ist einfach da, um mal etwas ganz anderes zu erleben und zu tun und Abstand zum Rhythmus von Pflicht, Leistung und tausend Menschen um einen herum zu bekommen. Diese Worte mit persönlichem Zwinkern an P. & G., die lustiger Weise unabhängig voneinander die Befürchtung geäußert haben, ich könnte esoterisch werden. Ich bin euch dennoch dankbar für eure Ehrlichkeit!

Ich liebe „emotional einschneidenden persönliche Geschichte“ … also bitte nicht aufhören.
Spannende italienische und deutsche Geschichten aus Island, Fortsetzungen willkommen ;-). Die alten Griechen wären erstaunt, was heute alles unter Rhythmus fallen soll: „Pflicht, Leistung und tausend Menschen um einen herum“… In diesem Sinne wünsche ich mal eine gute erfüllte und nicht bis über den Rand vollgestopfte Zeit! Lieben Gruß Ghislana
Liebe Ghislana, mit der Zeit ist das hier was anderes. Selbst „vollgestopft“ fühlt sie sich irgendwie nicht stressig an. Wobei das auch noch ein Beginner-Phänomen sein kann. Vielen Dank für die Grüße und Wünsche!
Hi Claudia,
Was machst du in Island? Interessante Berichte! Da wollte ich auch schon längst mal hin. Ein Muss für jeden Geographen. Aber ich hab jetzt erst Mal zwei kleine Mädels.
Hi Miri, Gratulation zur Familienvergrößerung! Ich bin zurück bei meinem Wurzeln … dem Fernweh folgend. Wenn ich länger bleibe, wäre es für dich doch vielleicht mal ein Grund, Land und Besuch miteinander zu verbinden, oder? Ich umarme dich herzlich!